Herr Knopf – ein weiteres Fragment einer lebenslänglichen Fraktur

„Das Radiöli ist kaputt!“.

Herr Knopf schüttelt den Wecker, dreht ihn um und versucht, die Knöpfe zu drehen.

 „Das Radiöli ist kaputt.“

Er legt den Wecker mit dem Zifferblatt nach unten auf den Tisch. Ich sitze daneben und schweige.

Herr Knopf blickt mich an, dann blickt er weg, in irgendwelche Fernen. Seine Hand stösst den Wecker vom Tischrand.

 

Vor ein bisschen mehr als einem Jahr sass ich mit Herrn Knopf vor einer Bar in der Brauerstrasse. Er liebte es,  dort zu sitzen und zu beobachten.

„Wir sitzen hier“, so sagte Herr Knopf, „sozusagen im Transsexuellen-Express“.

In der Tat, das Strassenangebot von teils undefinierbaren Geschlechtstypen war beachtlich. Doch der flanierenden und gierenden Kundschaft schien es egal zu sein. Alle waren charmant und freundlich und so war auch Herr Knopf. Wohl-wollend grüsste er ständig nach allen Seiten. Es war ein schöner Tag.

Allerdings sollte sich die gute Laune des Herrn Knopf schnell ändern. Launig, wie er immer war, hüpfte er von Thema zu Thema, erzählte dies und jenes und so kam es, dass er sich zum Thema  „Kult Zürich Aussersihl“ und die Neuentdeckung des Kreis 4 ereiferte. Was folgte, war ein knopf’sches Feuerwerk.

„Den Kreis 4 entdecken? Wieso? Uns hat es schon immer gegeben! Warum entdeckt Ihr nicht zum Beispiel Oerlikon, Seebach, Affoltern, Schwamendingen, Albisrieden und Witikon? Diese Stadtteile wurden 1934 eingemeindet und dümpeln teils multikulturell oder drogen-affinal an den Rändern von „Down-Syndrom Switzerland“. Dort findet Ihr Eure 99 Nationen mit ihren fremden Kulturen, mit ukrainischen Hautärzten,  somalischen Frischmärkten, patagoni-schen Schuhläden und mauretanischen Schildkrötenhändlern. Lasst uns doch einfach in Ruhe untergehen.  Dank Minergie habt Ihr die fröhlichen Bordelle doppelverglast und somit mit einem Passivhaus-Status versehen. Die armen Mädchen müssen nun doppelt so stark an die Scheiben klopfen. Das kann’s ja nicht sein. Und an jeder Ecke steht mittlerweile eine Galerie. Nichts gegen Kunst und es gibt gute Galerien im Kreis 4! Die meisten Neueröffnungen sind jedoch nichts anderes als Kulturverrichtungsboxen, eingerichtet von gestressten Managern für ihre gelangweilten Ehefrauen, die sich zwischen Nagelstudio, Fitness-Center und Botox-Zapfsäule gerne kulturell betätigen und vorzugsweise die Freizeitkunst ihres Ehe-Therapeuten ausstellen. Und hast Du die Oeffnungs-zeiten bemerkt? Komme sofort, heissen die, oder Dienstags von 11.15 Uhr bis 14.20 Uhr oder Nach Vereinbarung.

Nun, wenn Herr Knopf sich ereiferte, dann sprühte immer Speichel und es floss Herzblut und Bier.

Nach dieser eher harschen Eröffnung, die in üblicher Knopfscher Lautstärke erfolgte, fand ich es besser, einen kleinen Spaziergang vorzuschlagen. Natürlich willigte Herr Knopf ein und wir dackelten los. Wie immer blieb Herr Knopf jedoch alle hundert Meter  stehen, weil er mir etwas zeigen oder erklären wollte. Wir besuchten ein paar schöne alteingesessene Läden und natürlich auch einige Bars, die namentlich zu erwähnen Herr Knopf mir ausdrücklich verboten hatte. „Es reicht“, meinte er, „wenn schon die EasyHotel-Touristen ständig alle Nebengassen nach Hörnchen und Latte Macchiato absuchen und mit runden Augen in unsere Hinterhöfe gucken. Und wir wollen schlussendlich nicht auch noch die Leute aus dem Kreis 1 hier haben!“ 

Ich konnte ihm seine Bitterkeit ein bisschen nachfühlen.  Neu hingegen war eine gewisse Resignation, etwas sehr Ungewohntes bei ihm.

Ich versuchte, den wieder zunehmend mürrischen Herrn Knopf in andere Bahnen zu lenken und spreche ihn auf „früher“ an. Ein todsicheres Mittel, ihn zu beruhigen.

Bei mehrere Getränken und einer Kleinigkeit zum Essen, bejammert er nochmals uns alte Säcke, die auf Reserve laufen und panisch versuchen, museale Spuren zu hinterlassen um  ein bisschen die verlorenen vergangenen Tage wieder herauf zu beschwören.

Verlorene Tage?

Ich kenne den Herrn Knopf seit Ende der 60er-Jahre und unsere Wege haben sich in all dieser Zeit regelmässig gekreuzt. Fröhlich, launisch und meistens feucht.

Herr Knopf  wuchs im Kreis 5 auf und zog in den 60er Jahren in den Kreis 4. Ueber seine Jugend ist wenig bekannt, ausser dass er eine Gärtnerlehre absolviert haben will.  Begegnet sind wir uns in einem Antiquariat am Stauffacher, welches spezialisiert auf Heftli-Romane war und dessen Besitzer ein ausgeklügeltes System entwickelt hatte, um seine Bestände zu mehren. Teil des Systems war damals ein gewisser Herr Knopf, der regelmässig Altpapierbestände durchwühlte, zerknitterte Heftli zu Hause liebevoll aufbügelte und diese zum Kilopreis dem Antiquar verkaufte. Der andere Teil des Systems war, dass man für 3 gebrachte Romanheftli oder Taschenbücher wieder ein Exemplar aus den unendlichen Regalen beziehen durfte.

Herr Knopf war aber nicht nur ein Kenner erlesener Trivialliteratur, er war auch sonst sehr gut belesen und immer sah man ihn mit einem Buch. Er hatte eine untrügliche Nase für Trouvaillen und als 1972 der Germanist und Schriftsteller Robert Faesi starb, wusste Herr Knopf aus nicht mehr identifizierbarer Quelle, dass ein grosser Teil seiner stattlichen Bibliothek im Heilsarmee Brockenhaus gelandet war. Gleich am ersten Tag stand Herr Knopf dort auf der Matte und kaufte Unmengen signierter Bücher, Erstausgaben und Widmungsexemplaren aus einem langen Sammler- und Leserleben.  Das nötige Kleingeld verschaffte sich Herr Knopf auf dubiose Weise aus Spielautomaten, aus Darlehen vertrauens-seliger Antiquare und aus allerlei Nebenbeschäftigungen, von denen später noch die Rede sein wird.

Aber auch als 3 Jahrzehnte später ein berühmter Zürcher Buchhändler starb, vernahm Herr Knopf in einer Kneipe am Helvetiaplatz, dass dessen mormonische Verwandte aus Amerika im Lande seien, die Wohnung räumten und die Bibliothek des Buchhändlers entsorgten. Diese Information führte dazu, dass Herr Knopf frühmorgens mit einem befreundeten Taxi-Chauffeur nach Wollishofen fuhr und massenhaft schwarze Abfallsäcke auflud und somit der später eintreffenden Sperrgutabfuhr die Arbeit wesentlich erleichterte. Auch hier waren die Schätze unbeschreiblich. Widmungsexemplare der Schweizer Literatur der letzten 50 Jahre, Erstausgaben und bibliophile Kostbarkeiten. Herr Knopf regte sich damals auf, weil der Tod des Buchhändlers in den Tageszeitungen zelebriert wurde, während gleichzeitig seine Bibliothek in schwarzen Abfallsäcken landete.

Bescheiden, wie Herr Knopf immer war, brachte er diese Schätze nicht in die teuren Nobelantiquariate, sondern in die eher kleinen Läden. Dadurch erzielte er zwar keine Spitzenpreise, sicherte sich aber die Freundschaft zahlreicher Antiquare, sowie massenhaft Gutscheine, da diese kleinen Läden selten allzuviel Bargeld ausgeben konnten. Der gütige Herr Knopf gab diese Gutscheine stets weiter an seine wenigen Freunde und einige waren immer noch in seinem Besitz, da die Antiquariate zwischenzeitlich in Konkurs gegangen sind.

Herrn Knopf nun aber als Bibliophilen, als Liebhaber literarischer Leckerbissen  und verkappten Buchhändler darzustellen, wäre falsch. Herr Knopf hatte Zeit seines Lebens immer das gemacht, wozu er Lust hatte. Die Bücher waren eine Sache; aber da gab es auch Glücksspiel, Wildwestfilme, Sauftouren, Diskussions-runden, Aushilfsarbeiten wie z.B. das Aufziehen von Parkuhren, Fensterputzen, Stühle leimen, Ladenhüten oder Zeitungen austragen. Nie sah man Herrn Knopf als Müssiggänger; immer war er mit etwas beschäftigt, auch wenn er frühmorgens in der Kneipe sass, grosse Biere trank und fette Schinkenbrote verdrückte. Jeder Tag war ein fröhlicher oder auch launischer  Kampf auf dem Weg zum Ende des Regenbogens,  der aber in der guten Luft im Kreis 4 nur selten zu sehen war.

Herr Knopf war immer ein guter Verlierer, besonders wenn er mit einigen italienischen Kumpels Scala Quaranta spielte und regelmässig das Nachsehen hatte, weil er die Spielregeln nicht richtig kannte und nicht italienisch sprach. Und er war aber auch ein schlechter Gewinner, weil Gewinne für ihn belastend waren. Ausserdem bestand er immer drauf, dass Verlieren nicht unbedingt zu Verlust führen muss.

„Gewinne“, so sagte er zu mir auf unserem letzten Rundgang durchs Quartier, „sind schlecht, ausser man verteilt sie sofort wieder. Wer eine Banknote auf der Strasse findet, sich bückt, um diese aufzuheben um sie zu behalten, der wird sich immer wieder bücken. Und vor lauter Bücken geht der Horizont vor Augen verloren. Das passt nicht zu uns. Das heisst aber nicht, dass wir im Kreis 4 Verlierer sind. Wir waren Verteiler und verteilen immer noch. Und das geht nun langsam aber sicher verloren.“

Kurzatmig blieb Herr Knopf stehen. Unser Spaziergang war ein bisschen ins Stocken gekommen.  Ungewohnt. Er schüttelte mehrfach den Kopf und sagte, dass er gehen müsse.

Ich habe ihn 12 Monate nicht mehr gesehen.

 

Bis heute. Ich sitze am Tisch und hebe das Radiöli, das ein alter defekter Wecker ist, auf. Herr Knopf greift danach.

Eine blaue Schnabeltasse wird vor ihn hingestellt, die er zur Seite schiebt.

„Es rauscht“, sagt Herr Knopf, „oben“. Er dreht den Wecker wieder um und blickt an mir vorbei.

Ich stehe auf, streiche ihm über die Schulter und gehe.

Ich blicke nicht zurück. Bei der Türe tippe ich einen Code ein und verlasse die Abteilung.

„Bitte lassen Sie niemanden hinaus“, steht auf der Türe, „Wenden Sie sich im Zweifelsfall an das Pflege-Personal“.

Ich gehe über das Gelände in Richtung Schwamendingerplatz und warte dort, knopfergeben, im Regen auf’s nächste Tram.

Zurück.

Zurück in eine Zukunft.

 

Schreibe einen Kommentar